Das Beste ist hinter Glas

Vor langer Zeit hast du mir meine Radieschen von meinem Butterbrot gestohlen. Ich habe sie so wunderbar arrangiert und mit grünem Schnittlauch bestreut, feine grüne Linien gezogen. Ich freute mich so sehr darauf, dieses schönfarbige Gebilde in mich hinein zu essen, mir alles einzuverleiben. Es gab so richtig Streit, weil ich ein Mordsgeschrei machte, um mich schlug und dich dabei traf. Ich solle mich nicht so aufführen, hieß es und nicht so geizig sein. Ich bin nicht geizig, denn du hast mich bestohlen. Nein, nicht wegen der Radieschen …

Du hat mir etwas gestohlen, etwas zerstört, das ich damals noch nicht in Worte fassen konnte, das mir aber lebensnotwendig vorkam und das ich nicht greifen, nur fühlen konnte. Ich stand hilflos da, weil ich nicht in der Lage war, zu sagen um was es mir ging. Ich hätte dir aus dem Stand heraus andere Radieschen geschenkt. Irgendwelche, aber nicht diese hier mit den grünen Schnittlauchzeichen, die, zufällig gestreut, ihren Platz gefunden hatten und eine Symmetrie und Einheit ausstrahlten, die mir im Innersten meiner Seele guttat. Alle Winkel zueinander stimmten und wenn nicht auf Anhieb, rückte ich sie solange zurecht, bis sie stimmten, so wie es mir meine innere Ordnung eingab. Von außen sah es wohl so aus, als ob ich mit dem Essen spielte, – was man ja auch nicht durfte. Aber insgeheim erforschte ich die Abstände und Winkel der Formen zueinander und arrangierte so meine Weltordnung.

Ich brauchte solche Spiele. So wie mein Körper Nahrung aufspalten musste, um wachsen zu können, brauchte meine Seele dies zu ihrer Entfaltung. Ich konnte das alles nicht formulieren. Und hätte ich es gekonnt, hätte ich mich lächerlich gemacht, weil es keiner verstanden hätte. Schnell hatte ich begriffen, dass man ‚es‘ mir wegnehmen konnte. Zart und scheu zeigte sich mir diese Seite, nur wenn sie selbst dazu bereit war. Ich musste sie schützen, unbedingt.

In unserem Wohnzimmer stand eine Vitrinenschrank, in dem wunderschöne geschliffene Glasvasen, die verführerisch im Licht funkelten, aufbewahrt wurden. Von Zeit zu Zeit legte ich meinen Kopf und meine Schultern in die Vitrine, schob die Scheibe, soweit es ging, zu, atmete tief ein und sog die Stille und den Geruch von Glas in mich auf. Ich wollte herausfinde, wie Glas riecht. Gerne hätte ich mich ganz in die Vitrine gelegt. Leider war ich dafür jedoch schon zu groß. Und wie hätte das auch ausgesehen, wen plötzlich jemand ins Zimmer gekommen wäre. Ich hätte mich geschämt. Aber in meiner Vorstellung genoss ich das Bild, zusammengerollt wie ein Embryo in der Vitrine zu liegen.

Ebenso liebte ich es, Farben zu essen und zu trinken. Es war so, als ob sie sich in mir ausbreiten würden. Wenn ich meine Augen schloss und gegen die Sonne die rote Innenwand meiner Augenlider betrachtete, sah ich das intensivste Rot vor mir aufleuchten. Keinem Farbenkasten konnte ich ein so leuchtendes Rot hervorlocken! Das intensivste Rot war in mir und deshalb schien es nur richtig, immer wieder Farben ’nachzuessen‘ und ’nachzutrinken‘, damit das Lebenswasser in mir die richtige Farbe behalten konnte.

Farben kann man auch einatmen. Wenn sich Sonnenlicht in einem Kristallprisma bricht und sich in die sieben Farben des Spektrumszerlegt, durchdringen die einzelnen Farbstrahlen den Raum, kommen förmlich auf einen zu, gehen durch den Körper hindurch und man ‚atmet‘ pure Farbe. Farbiges Licht ist schneller, beweglicher und addiert sich zu Weiß, ganz anders als die Farben des Malkastens.

Nie hat mich jemand gefragt, wie es sich anfühlt oder schmeckt, Farben zu trinken und außer mir scheint sich niemand die Frage gestellt zu haben, ob Glas riecht und wenn ja, wie es riecht. Und ob es anders riecht, wenn es bricht. Aber ich habe diese Fragen ja auch nie jemandem gestellt. Egal. Ich habe das Geheimnis gelüftet. Und seit Neuestem glaube ich, dass es gut war, dass alles so lange und unbeachtet, wie unter einer Glasglocke geschützt, reifen konnte.

© Helga Wimmer

Das Beste ist hinter Glas