Zeitbilder

Text zur Arbeit, Helga Wimmer

Alle Geschehnisse und Erfahrungen, gelebte und überlieferte, werden in Form von Bildern in unseren Köpfen gespeichert. Eine Fotografie ist die Anfertigung einer Kopie von einem Original. Mit ihr kann ein bestimmter Zeitpunkt in Form eines Einzelbild festgehalten werden. Es steht für den besagten Zeitpunkt fragmentarisch und erhält Erinnerungswert. Durch die Erinnerung eines Bildfragmentes an ein bestimmtes Ereignis kann ein weiteres Bild und dessen Ereignis in der Erinnerung ausgelöst werden. Es muss in keinem chronologischen Zusammenhang mit dem zuerst entstandenen Bild stehen. Kein Bild steht für sich allein. Eine Fülle von Einzelbildern berühren und/oder überlappen sich. Die Wahl, welche weiteren Bilder ausgelöst werden, ist willkürlich.

Mittels der Erinnerung kann das chronologische Zeitgefüge verlassen werden. Das erleben der Zeit, das im realen Leben nur als ein „Nacheinander“ erfahren werden kann, ist in der Erinnerung aufgehoben. Zeitabstände spielen keine Rolle und ein Sprung über Jahrzehnte, allerdings nur in die Vergangenheit, kann vollzogen werden. Aber auch in der Erinnerung ist es nicht möglich zwei oder mehrere Zeitgeschehnisse gleichzeitig zu erleben. Das lineare Prinzip der Empfindung des Zeiterlebens bleibt aufrecht erhalten.

Der rechte Teil der Arbeit zeigt Originalfotografien von zwei Ehepaaren. Sie stammen aus den Jahren 1830 bis 1860. Selbst diese Originale sind bereits ‚Kopien‘ der abgelichteten Personen. Da es keine lebenden Personen gibt, die durch verbale Übermittlung dazu hätten beitragen könnten, dieses Bild zu verändern und ein neues Bild, eine Kopie, der Personen entstehen zu lassen, stehen diese Bilder isoliert – als Originale aus einer vergangenen Zeit und sind Ausgangspunkt dieser Arbeit.

Der linke Teil der Arbeit zeigt einen Ausschnitt einer Fotokopie von einer Fotografie. Abgebildet sind eine frontal zum Betrachter sitzende Person und zwei angeschnittene Personen im Hintergrund. Der Sitzende ist der Sohn eines der abgebildete Ehepaare aus dem rechten Teil der Arbeit. Mittels Aussagen noch lebender Personen, die diese Personen kannten, konnte sein Bild belebt werden und dadurch konnten neue – eigene – Bilder (Kopien) entstehen. Der rechte obere Teil der Kopie zeigt den Sohn des Sitzenden – die nächste Generation. Dieser Teil der Arbeit befindet sich unter einer Acrylglasscheibe. Glas steht sinnbildlich für ein nicht selbst erlebtes und aus eigener Erinnerung entstandenes Bild.

Im mittleren Teil der Arbeit wird die Generationenfolge, über die Kinder dieser Person und deren Kinder, in die heutige Zeit geführt. Auf der untersten Ebene, direkt auf der Holzplatte unter Acrylglas, befinden sich kopierte Ausschnitte von Fotografien bestimmter Personen und Ereignisse, die nicht direkt erlebt und erinnert werden können. Die zweite Ebene zeigt Bilder, die direkt erlebt oder aus eigener Erinnerung gesehen werden können. Sie haben keine Verglasung. Ausschnitte von Fotografien wurden hierfür auf Kopierfolie kopiert.

Die herausragende dritte Ebene stellt Bilder der Zukunft bzw. Ereignisse dar, deren räumliche und zeitliche Erfahrbarkeit soweit entfernt ist, dass das menschliche Vorstellungsvermögen dazu nicht ausreicht, keine Informationen und keine Bild dazu vorliegen, weil diese Ereignisse in unserem Erleben noch nie stattgefunden haben. Deshalb ist es das einzige Feld, das mit einem Text versehen ist. Der Einschlag des Kometen Shoemaker Levy 9 in den Jupiter im Sommer 1994 steht stellvertretend für solch ein Ereignis. Eine Spezialkamera wurde in den Weltraum geschickt, um von diesem Ereignis, das zuvor noch kein Menschenauge gesehen hatte, Bilder zu machen –  eine originäre Erfahrung.

Die Arbeit wird von einem Projektor angestrahlt. Die Schatten (Projektionen) der Bilder der oberen Ebenen fallen auf die Bilder der darunter liegenden Ebenen, stellen neue Zusammenhänge her und lassen neue eigenständige Bilder entstehen. Zum einen wird so der Projektionscharakter noch einmal hervorgehoben, zum anderen wird dadurch die Teilung der Ebenen wieder aufgelöst. Erlebte Erinnerungsbilder oder solche, die nicht oder schwer erfahrbar sind, stehen neben nicht erlebten (Shoemaker-Text). Die Aufteilung in die zeitlichen Ebenen wird wieder aufgelöst. Es wird sogar ein räumliches Nebeneinander der verschiedenen Zeitebenen neu konstruiert.

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